Im Opernführer lässt sich nichts zu Vespertine nachlesen. Diese Oper nach einem hochgelobten Pop-Album der isländischen Künstlerin Björk erregte zu ihrer Weltpremiere 2018 am Nationaltheater Mannheim ein solches Aufsehen, dass sogar die Tagesschau berichtete. Ein Novum der Musikgeschichte also, die knapp 60 Minuten einer intimen Seelenerkundung mit sphärischen Klängen von Synthesizer und digital erzeugten Tönen auf der Bühne spiel- und sichtbar zu machen. Dieser Herausforderung hat sich am Theater Bonn das Künstlerkollektiv Kommando Himmelfahrt gestellt – gewagt und gewonnen!
Björks Platte von 2001 steckt voller musikalischer und lyrischer Neulanderkundungen, ihre Stimme dabei oszillierend zwischen monotonen Silben auf einem Ton, gehauchten Tiefen, einem ephemeren Timbre, das die Verse wie Sirenengesang ins stellare Nichts aufsteigen und ausklingen lässt. Die Musik entwickelt einen hypnotischen Sog, suggestiv und mystisch. Komposition und Texte hat Björk in einer Zeit der inneren Fragen geschrieben: eigene Wortschöpfungen für Verwundbarkeit (beautifullest, fragilest), synästhetische Fügungen (And I can smell a pinch of hope), explizite erotische Fantasien (he slides inside, he’s still inside me) und symbolträchtige Ängste und Visionen (I have a recurrent dream, every time I lose my voice, I swallow little glowing lights my mother and son baked for me).
Für die Bonner Vespertine hat Roman Vinuesa von Himmelfahrt Scores die Musik neu arrangiert. Ein Kammerorchester mit 15 Musikerinnen und Musikern des fabelhaften Kölner Ensemble Musikfabrik spielt unter der Leitung von Hermes Helfricht. Dieses avantgardistisch ausgerichtete Orchester hat ein Faible entwickelt für außergewöhnliche Bühneninszenierungen, zu denen ihre Musik im Dialog und in signifikanter Erweiterung steht. Neben konventionellen Instrumenten wie Geige, Cello, Bratsche kommen sehr viel Schlagwerk, eine Marimba, ein großes Xylophon, und eine Celesta, ein klavierähnliches Glockenspiel, wie auch Glockenröhren zum Einsatz, die für die glitzernden und perlenden Spitzen der Musik sorgen. Harfe, Rutenbündel auf Pergamentpapier und ein Kürbis im Wasserbad sorgen für den natürlich erzeugten Minimal-Pop-Punk-Techno-Klassik-Sound in Vespertine. Keine Elektronik, keine Samples, alles live auf der Bühne!
Was passiert auf der Bühne? Welche Geschichte hat das Autorenkollektiv mit dem Komponisten Jan Dvorák, Regisseur Thomas Fiedler und der Dramaturgin Julia Warnemünde geschaffen? Auf einen Nenner gebracht: den Kreislauf des Lebens. Ein Hubschrauber setzt eine Polarforscherin an ihrer Station im dunklen Teil des arktischen Winters ab. Hier lässt ein rätselhafter Virus Tiere verenden, aber die Befürchtung, es könne auch den Menschen befallen, tritt nicht ein. In ihrer Einsamkeit bringt sie ein Kind zur Welt, dem ihre ganze Liebe und Fürsorge gilt – allerdings in Form einer leblosen Puppe. Die weiteren Dramatis personae sind eine Doppelgängerin, ein Junge, ein Mann. Hinzu kommt der Hirschmann, eine lebensgroße Zentaurgestalt, oben Mensch mit Hirschgeweih, unten stark behaarte Hirschbeine mit Hufen.

Die Forscherin erwägt, ihre Untersuchungen abzubrechen. Isolation und ständige Dunkelheit führen sie in die Depression und ein klassisches Lamento. Dann taut der Schnee, der Frühling lässt das Efeu auf dem Küchenschrank wachsen, und alles kann von vorn beginnen. In der Schlussapotheose besingen die Frau, der Mann, die Doppelgängerin und der Damenchor „Let’s unite tonight, we shouldn’t fight, embrace you tight, let’s, ooh, ooh“ – ein Friedensappell, mit Harfe eingeleitet und mit Swing- und Jazzelementen heiter gestaltet. Allerdings schiebt Björk noch eine Facette ihrer seelischen Befindlichkeit hinterher: die Sehnsucht nach menschlicher Wärme.
Den Mann gibt der Bariton Carl Rumstadt. Auch er nimmt sich in Schwarz elegant zurück, delegiert seine hormonellen Regungen an sein viriles, testosterongesteuertes Pendant, den Hirschmann. Liebevoll trägt er diese mannsgroße Puppe vom Schauplatz, auch er gespalten in Tat und Empfindung. Der Junge – Karl Kristiansen – bewältigt nicht nur eine tatsächlich schwer zu singende Partie bravourös, sondern erobert trotz oder gerade wegen seiner anfänglichen Zögerlichkeit das Publikum im Sturm. Ekaterina Klewitz bereitete das junge Talent aus dem Kinder- und Jugendchor des Theater Bonn vor. Dem Damenchor unter der Leitung von André Kellinghaus überträgt diese Komposition eine anspruchsvolle Partie – manchmal durchaus im Sinne des antiken Chors. Sie mutet den Sängerinnen bei der Aufführung im Schauspielhaus auch eine physisch herausfordernde Platzierung zu: Bis auf die Schlussszene singen sie im Untergrund, also mit Microports ausgestattet unter der eigentlichen Bühne. Sehr empfindsam vermitteln sie die subtilen poetischen Einladungen zur Trance.

Die Oper Vespertine lebt von ihrem kleinen, aber wirklich feinen Cast. Allen voran Nicole Wacker, die mit ihrem dramatischen Sopran gerade auch die Königin der Nacht an der Oper Bonn brillieren lässt. Der Versuchung, auch nur im entferntesten wie Björk zu klingen, widersteht sie. Zum Glück! In wunderbar klarer Artikulation verleiht sie jeder Gefühlssituation der Frau stimmlich Ausdruck: zärtliche Liebe, sexuelle Erfüllung, Fürsorge, Zweifel, naturwissenschaftliche Rationalität, Entschlossenheit, Mut, Selbstkritik und psychische Abgründe. Ihre große Stimme wird verstärkt in den Szenen in der Klangkugel des Radoms, klug gewählt als funktionales Domizil auf kleinstem Raum und frostfestes Gehäuse für Sendeantennen. Als Echo und kommentierendes Alter ego ist ihr die Doppelgängerin zur Seite gestellt. Die Sopranistin Ava Gesell, im schwarzen Anzug, überzeugt sowohl in ihren Solopartien als auch im Wechselgesang mit der Frau. Hier stehen sich die robuste Macherin und ihre zarte innere Stimme gegenüber.

Björk selbst spricht den Titel ihres Werks „Vespertine“ so aus, wie man ihn schreibt. Er kommt aus dem Lateinischen und bedeutet schlicht abendlich, im Christentum das Abendgebet und als Vesper für den Wanderer die kleine Mahlzeit unterwegs. Die Macher von Kommando Himmelfahrt gehen darüber hinaus auch musikalisch in die griechische Mythologie zurück. Jan Dvorák komponiert – ganz operntypisch – acht Entr’actes. Diese instrumentalen Zwischenspiele verweisen auf die Entstehung des Kosmos und seine Schöpfer: Aus dem Chaos entstand die Urmutter Gaia als Personifikation der Erde, die zunächst ihren Sohn Uranos ungezeugt gebar, ihn dann heiratete und damit Göttergeschlechter wie das der Titanen gründete. So heißen einige Zwischenspiele Chaos – The Birth of Uranos – The Titans – The Blood of Uranos – The Birth of Aphrodite. Mit schmeichelnden Harmonien erzählt die Musik, dass Schöpfung und Ende, Entstehen und Vergehen sich abwechseln im ewigen Kreislauf des Lebens.
Fazit: Ein faszinierendes Crossover zwischen Popmusik und Oper. Perfekt besetzter Cast, Bühne, Licht und Kostüme sehr stimmig. Unbedingt ansehen – eine Rarität!
Das Theater Bonn spielt Vespertine noch sechs Mal bis zum 29. Mai 2025. Infos und Tickets hier.