Düstere erste Takte der Musik, graue meterhohe Wände, ein Überfall, ein Mord – wie der Auftakt zu einem Tatort-Krimi hebt die Suche nach dem Schuldigen in diesem Drama ab. Im Kölner Staatenhaus feiert Don Giovanni von Wolfgang Amadeus Mozart Premiere. Die „Oper aller Opern“, wie es oft heißt. Das Stück enthält einfach alles, was ein fantastisches Bühnenspektakel ausmacht: eine enorme musikalische Bandbreite mit Wurzeln im Barock und prospektiven Elementen der Belcanto-Oper, deutungstiefe Dramatis personae, die sich seit 238 Jahren immer wieder aktuell interpretieren lassen, ein kontrastierendes Mit- und Nebeneinander der Ständegesellschaft des 18. Jahrhunderts, darüber hinaus eine rasante Mischung von Opera seria und buffa, aber ohne das Lieto fine, das glückselige Ende, das die Ordnung von vor dem Wirbelsturm wiederherstellt.
Die Figur des potenzprotzenden Verführers, des testosterongesteuerten Womanizers geht auf niemand geringeren als den Göttervater Zeus in der antiken Mythologie zurück. Wie dieser weiland hinter der Stiermaske Europa entführte, so setzt die Regisseurin Cecilia Ligorio Don Giovanni ebenfalls diese Larve auf, wenn er auf verbotenem Terrain mausert. Dabei entzieht er sich der eindeutigen Festlegung, der Macho, Mörder, Mädchenjäger, der alles bespringt, was sich en passant bietet. Wichtig die überbordende Manneskraft, von der die Buchführung seines Dieners Leporello zeugt: mehr als 2.000 Liebschaften soll er sich bereits gegönnt haben – lebendig in immer wieder neuen Versionen des Don Juan-Mythos.
Das anfangs hermetisch geschlossene Bühnenbild öffnet sich zusehends, Räume entstehen, in denen die Personen sinnfällig in ihren Beziehungen erscheinen. Dabei wirkt die Titelfigur als Zentrifugalkraft für seine Mitspieler; alles kreist um ihn und seine (Misse-)Taten. Nächtlich überfällt er Donna Anna, um sie zu vergewaltigen. In einem Handgemenge tötet er ihren Vater, den Komtur, also einen leitenden Beamten. Zusammen mit ihrem hingebungsvollen Verlobten Don Ottavio nimmt sie nun die Verfolgungsjagd auf. Gleichzeitig tritt Donna Elvira auf, die von Don Giovanni sein Eheversprechen und die Treue einfordert. Er entschlüpft erneut und tummelt sich auf einem Dorfplatz, wo Zerlina und Masetto fröhlich die Vorbereitungen für ihre Hochzeit treffen. Zärtlich händchenhaltend – und keineswegs gewalttätig – verführt er das kecke Dorfmädchen und hat damit … fast Erfolg.

Das Ende ist unausweichlich. Der Held geht an seiner Selbstüberschätzung zugrunde. Das surrealistische Essen mit dem jenseitigen Komtur fördert eine Wahrheit zutage: Don Giovanni fehlt der moralische Kompass für eine Läuterung, eine Introspektion ist in seinem Naturell nicht angelegt. „Viva la libertà“ singt er und meint damit keineswegs die aufklärerischen Ideen im Jahrzehnt der Französischen Revolution, sondern sein Leben als Libertin, der eben ruch- und rücksichtslos seinem hedonistischen Lebensstil frönt. Dass die anderen Adligen darin einstimmen, heißt nur, dass auch sie, wie viele Heutige, Freiheit als Privilegien für besonders Begüterte interpretieren.
Musik und Inszenierung komplementieren sich im Kölner Don Giovanni auf begeisternde Art und Weise. Tomáš Netopil, GMD des Aalto Theaters in Essen und vier Jahre Musikdirektor des Prager Nationaltheaters (wo Don Giovanni 1787 uraufgeführt wurde), bringt seine Mozart-Expertise mit dem Gürzenich Orchester feinfühlig zu Gehör. Auf den Punkt die Einsätze, freundlich zugewandt den Instrumentalisten und den Sängerinnen und Sängern auf der Bühne gleichermaßen. Gut mitzuerleben dank der ebenerdigen Anordnung des Orchesters und der leicht erhabenen Position des Dirigenten. Schmeichelnd fein wie der Text das Mandolinensolo bei „Deh, vieni alla finestra“, slick und fast jazzig die Mozart Improvisationen in den Rezitativen von Luca Marcossi am Hammerflügel. Großartig!

Den Farbenreichtum der Musik setzt die Regie in sinnfällig kolorierte Konstellationen um. Selbstredend räkeln sich die Männer und Frauen des Tanzensembles in knappen Bikinis und Shorts im Knallrot der Geilheit. Erotische Fantasien in Ferrari-Rot, Element in jedem Plüschpuff. Donna Anna, die elegante, brave, die in gewisser Ambivalenz vielleicht doch auch auf ein Abenteuer mit Don Giovanni aus war, trägt wie Don Ottavio und der Komtur das vornehme, royale Blau. Donna Elviras Kostüm indiziert eine weitere Lesart der Farbe Rot: Aus ihrer Kränkung erwächst eine Wut, die sie dazu bringt, einen gemeinsamen Rachefeldzug zu planen. Dabei nimmt sie auch Zerlina gleichermaßen wie eine Gouvernante unter ihre Fittiche. Dieses einfache Mädchen bildet mit den gesamten Dorfleuten einschließlich Masetto die farblos-unschuldige Szene in Weiß und Beige. Hier ist alles hell erleuchtet, hier gibt es keine düsteren Ecken und verschachtelte Abgänge wie sonst. Don Giovanni und sein Geselle Leporello tragen non-Farben. Sie oszillieren durch die Schauplätze bis hin zum Kleidertausch. Von Würde bis Wut – die Kostüme von Vera Pierantoni Giua zeugen von Klasse, Kenntnis und schneiderhandwerklichem Können.
Erneut weist die Oper Köln eine glückliche Hand beim Besetzen des Cast mit der Mischung von Ensemble und Gästen auf. Allen voran Kathrin Zuckowski, die in ihrem Rollendebut Donna Anna gibt. Schnörkellos fein gestaltet sie die Spitzentöne, hält in großem Leid die Contenance in ihrem Spiel und in der Stimmführung. Eine tolle Leistung, die zurecht mit dem größten Einzelapplaus honoriert wurde. Ihr Partner im Leid und im ehrenvollen Umgang mit der doppelten entsetzlichen Tat Dimitry Ivanchey als Don Ottavio. Es ist eine zurückhaltende Partie, der Tenor kann hier nicht leidenschaftlich punkten. Hier braucht es Finesse, die Ivanchey überzeugend gestaltet.
Giulia Montanari und Wolfgang Stefan Schwaiger, beide Ensemblemitglieder, gaben als niederes Paar die köstlichen Buffo-Szenen der Oper. Sie harmonieren vorzüglich, bringen Tempo und Verve in ihre verzwickte Situation , ernten Lacher für ihr ausgeprägtes komödiantisches Talent. Das Wechselspiel von Dominanz, Unterwerfung und Harmonie in der Liebesbeziehung erfährt hier durch „Pace, pace“ eine köstliche musikalische Interpretation. Christoph Seidl komplettiert die Runde der Ensemblesänger als Komtur. In erhöhter Position und mit sattem Bass repräsentiert er eine Instanz, die für den Titelhelden keinen Referenzpunkt bildet. Kleiner Auftritt, große interpretatorische Wirkung.

Valentina Mastrangelo gab als Donna Elvira ihr Deutschland- und Kölndebut. Sie paart ihre fantastische Bühnenpräsenz mit einer fabelhaften Sopranpartie, ein Solitär in dieser sonst paarig besetzten Oper. Die Schärfe der tief verletzten Frau und die Energie, die daraus entspringt, setzt sie mit ihrer schönen Stimme perfekt um. Als brothers in arms, auch trotz des Standesunterschieds, treten der amerikanische Bariton Seth Carico als Don Giovanni und der bulgarische Bass Adrian Sâmpetrean als sein Diener Leporello auf. Wo der eine die Brust entblößt und sich narzisstisch – auch stimmlich – präsentiert, beklagt der andere seine untergeordnete Stellung. Die komplementäre Ergänzung gelingt ausgezeichnet: Jeder der beiden hat bereits die Rolle des anderen auf der Bühne präsentiert und interpretiert die Nuancen dieser männlichen Partie wach und im wahrsten Sinne des Wortes harmonisch.
Die Kraft des Eros bleibt zentrales Motiv. Don Giovanni besteigt auch noch den Sarg des Komturs. Faune und Nymphen tanzen dazu. Donna Anna und Ottavio steuern eine einfühlsame Zweisamkeit an. Donna Elvira zieht sich zurück. Zerlina und Masetto erwartet ein turbulentes Eheleben, in dem auch schon mal die Fetzen fliegen. Leporello hat seinen Bro verloren und muss sich neu orientieren. Heißt es am Ende von Le nozze di Figaro noch „Corriam tutti a festeggiar“ (1786), hat sich hier die gemeinsame Sache erledigt. Ohne den Sog dieser diabolisch-manipulativen Kraft fehlt den Personen das fokussierte Zentrum.
Fazit: Dynamische, bildstarke Inszenierung mit starken Frauen und der großartig interpretierten Musik von Wolfgang Amadeus Mozart.
Die Oper Köln spielt Don Giovanni noch zehn Mal bis zum 4. April 2025. Informationen und Tickets hier.