„La vita il figlio e il genitor la pace“ – der Sohn möge leben und der Vater Frieden finden. Um diese beiden Desiderate kreist Mozarts frühe Oper Idomeneo. Das eine erzählt die antike Geschichte um ein Menschenopfer, das andere stellt die psychischen Qualen des Titelhelden dar. Als junger Mann von 24 Jahren komponierte Mozart dieses packende Drama aus der Folgezeit des Trojanischen Kriegs, dessen bestürzende Aktualität Floris Visser an der Oper Köln in Szene setzt.
Nach der Eroberung Trojas machen sich die siegreichen, aber kriegsversehrten Griechen auf den Heimweg. Von Odysseus wissen wir seit Kindertagen, das Schicksal des Königs von Kreta, Idomeneo, überliefert eindrücklich Mozarts Dramma per musica. Unterschiedliche Mythen knüpfen sich an die Legenden um diese Helden. Übel gelaunte, eitle und rachsüchtige Götter bringen sie in Lebensgefahr und fordern Menschenopfer, um sie zu besänftigen. So gerät auch Idomeneo in Seenot, ringt Neptun seine Rettung ab – aber zu welchem Preis! Er soll den ersten Menschen opfern, der ihm an Land begegnet. Ein Leben für ein Leben! Der Topos ist aus aus der Händel Oper Jephta bekannt: Auch hier ist es ausgerechnet das eigene Kind, das getötet werden soll.
Idomeneos Sohn ist Idamante, der sich einer klassischen Dreiecksgeschichte findet. Ilia, die Tochter des trojanischen Königs Priamos, liebt ihn innig, und Elettra, Tochter des griechischen Heerführers Agamemnon und Schwester von Orest, will sich in einer Ehe mit ihm die Kreter als Schutzmacht sichern. In der Opera seria geht es um das Schicksal eines Königs und mit dem lieto fine lösen sich die Konflikte. Ein Happy-End steht am Firmament. Das gilt vordergründig für die Liebenden: Ilia und Idamante werden ein Paar, gründen eine Familie und sorgen für den Fortbestand der Dynastie. Aber wiederum – um welchen Preis? Elettra stürzt sich zutiefst verletzt und enttäuscht in den Tod, Idomeneo muss abdanken und verbringt den Rest seiner Tage in wahnhaften Anfällen und Visionen vom Kriegsgeschehen in einer Gummizelle, wo er seiner Neptun-Obsession grafischen Ausdruck verleiht. Er kritzelt manisch Dreizack-Strichmännchen.

Diesen Stoff legt Floris Visser als dramaturgisches Rondo an. Die Ereignisse spielen sich im Inneren, in der Gefühlswelt des Titelhelden ab und kehren immer wieder zu den Kriegstraumata zurück. Die Dämonen zwingen ihn zur stetigen Rückkehr zum Schmerz, äußerlich nur sichtbar durch die Wunde am Kopf. Aber auch die Liebe zu seinem Sohn, die Verantwortung als Staatschef werden in den Rückblenden offensichtlich. Die Szene spielt fast ausschließlich im Freien, ein Zeichen für die Weite des Horizonts, die am Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der Aufklärung die Enge der Salons sprengte. Gleichzeitig bietet dies Raum für am Strand angespülte, ertrunkene Flüchtlinge und Menschen, die sich momentan aus allen Krisengebieten auf die Suche nach besseren, friedlichen Lebensbedingungen machen. Visser transportiert die antike Sagenwelt und den Irrsinn des Götterglaubens und Götterterrors ganz großartig ins Hier und Jetzt. Die Friedhöfe sind voll von Menschen, die dem Religionswahn zum Opfer fielen.
Die Schrecken des Krieges finden im Bühnenbild und in zusätzlich eingefügten Personen Ausdruck. So hat der versehrte Veteran meist ein Alter ego, einen Alten im Nachthemd, zur Seite. Der spiegelt die Gemütszustände oder hält den Leidenden wie eine Pietà im Arm. Ständig präsent ist der Dämon mit dem Exekutionsbeil. Als Memento für den Götterwillen: Idomeneo muss das Menschenopfer bringen. Zombies klettern aus den Gräbern und eine blutüberströmte Figur quert die Bühne. Mythologisch gesehen kehren die Furien oder Erinnyen aus der Unterwelt zurück, um die (Kriegs-)Opfer zu rächen. Die Psychoanalyse hätte ihre Freude: Werden nicht alle Menschen von den Erinnerungen an ihre Untaten oder Sünden heimgesucht und von Reue geplagt?
Was die kluge Regie verspricht, halten die fabelhafte Musik und deren Interpreten. Die Struktur der Komposition mag noch stark dem Barock mit Rezitativ und Arie verhaftet sein, aber welche Eleganz und welche Bellezza in diesen Solopartien! Sebastian Kohlhepp debütiert – wie fast alle anderen Solisten in ihren Rollen – in der Partie des Idomeneo. Sein eher dunkel gefärbter Tenor vermeidet die große stimmliche Geste des Helden; vielmehr spürt er, insbesondere in der Arie „Fuor del mar“, seinen Zweifeln und seinem Hadern mit dem Schicksal und den Göttern nach: Ein wildes, aufgewühltes Meer fühlt er in seinem Inneren. Fabelhaft sängerisch und schauspielerisch gestaltet und der Szenenapplaus wohlverdient!
Zerrissen wie alle Protagonisten zeigt sich auch Ilia. Darf sie den Sohn des Feindes lieben? Das kleine Pferdchen, dem vergifteten Geschenk der Griechen an die Trojaner nachgebildet, löst wie ein Trigger immer wieder diese Zweifel aus. Doch Kathrin Zukowski in ihrer Arie „Zeffiretti lusinghieri“ ihre Empfindungen für Idamante besingt, überwiegt ihr Gefühl: Die Liebe siegt! Ihren Sopran führt sie so betörend schön, klar wie ein Vogel am Morgen, mit Koloraturverzierungen, die vom feinsten Schliff zeugen. Man meint, getupfte Wölkchen am Himmel ziehen und kleine Schaumkrönchen auf den Wellen schaukeln zu sehen: gesangliche Synästhesie. Die Arie mündet in das Liebesduett mit Idamante, den die Mezzosopranistin Anna Lucia Richter in einer Hosenrolle vorzüglich gestaltet. Klein von Statur, aber groß in Stimme und Ausdruck. Die Irrfahrt zwischen wahrem Gefühl, Staatsräson und Opferbereitschaft gestaltet sie mit der außergewöhnlichen Bandbreite ihrer Stimme.
Ana Maria Labin ist als Ilias Gegenspielerin Elettra stimmlich auf der selben Höhe angesiedelt. Auch sie Sopran, aber mit einer ganz anderen Klangfarbe. Ihr Schicksal macht sie zu einer Außenseiterin, ihre Familie besteht aus lauter Meuchlern und Mördern. Labin verleiht ihrer Heldin eine stimmlich brillante, klare Entschlossenheit bis in den (selbst gewählten) Tod. Einen fabelhaften Arbace, den beratenden Staatsminister, gibt Anicio Zorzi Giustiniani. Der smarte Tenor verschafft sich Gehör in allen Staats- und Beziehungsfragen mit seiner wohltönenden, schön timbrierten Stimme. Absolut passgenau besetzt! Kurze Soloauftritte von John Heuzenroeder und Lucas Singer als der Priester Gran Sacerdote und als Stimme aus dem Off, la voce. Große Auftritte für den Chor, der seine differenzierte Klangkraft wie immer unter Rustam Samedov einstudiert hat. Klasse!
Rubén Dubrovsky leitet das Gürzenich Orchester auf seine besonders freundliche, zugewandte Art. Er gilt als Barockspezialist, was er mit Giulio Cesare in Egitto im vorigen Jahr an der Oper Köln eindrücklich unter Beweis stellte. Mozarts Idomeneo verleiht er eine manchmal tänzelnde, immer frische Note. Hier wird der Übergang vom Barock zur Klassik mit den spritzigen Einsätzen nach den Cembalo Rezitativen und den den großen Bögen der Melodien fein justiert hörbar.
Fazit: Hier stimmt alles, trotz oder gerade wegen der teilweise drastischen Regie. Die Sängerinnen und Sänger glänzen alle in ihren Rollen, der Chor strahlt und Rubén Dubrovsky lässt mit dem Gürzenich Orchester eine 250 Jahre alte Mozart Oper frisch und aktuell klingen.
Die Oper Köln spielt Idomeneo noch sieben Mal bis zum 13. März 2024. Infos und Karten hier.