„Willkommen in Bonn, Köln/Bonn“ – so lautete viele Jahre lang am Flughafen CGN die Begrüßung der Fluggäste als James-Bond-Persiflage. Nun also heißt die Oper Bonn ihre Gäste willkommen in einer Abflughalle dieses Airports – einer Welt für sich, in der ansonsten Fremde einander nur flüchtig begegnen. Aber wie in Il Decamerone von Boccaccio oder Il viaggio a Reims von Rossini bilden die Reisenden für eine begrenzte Zeit eine Schicksalsgemeinschaft. Die Pest hier oder der Mangel an frischen Pferden dort zwingt sie zum unfreiwilligen Verweilen in einem geschlossenen Raum, während in der Oper Flight von Jonathan Dove ein Schneesturm den gesamten Flugbetrieb lahmlegt. Zusammen mit seiner Librettistin April de Angelis schuf Dove dieses Auftragswerk für das Glyndebourne Opera House in Südengland, das 1998 dort uraufgeführt wurde.

Das Niemandsland Flughafen erinnert auch an die Geschlossene Gesellschaft von Jean-Paul Sartre. Nach und nach entblättern sich nämlich die seelischen Untiefen, die sozialen Ängste und die individuellen Nöte der Reisenden. Es treten auf: Tina und Bill, die ihr eingeschlafenes Beziehungs- und Sexleben in einem hübschen Urlaub wieder auf Vordermann bringen wollen. Eine ältere Dame, die auf die Ankunft ihres 30 Jahre jüngeren „Verlobten“, den Toyboy eines Urlaubsflirts auf Mallorca, wartet. Vergeblich natürlich. Ein Diplomatenehepaar auf dem Weg nach Minsk, ihrem nächsten Einsatzort. Sie ist hochschwanger und bringt schließlich unter großer Anteilnahme der anderen Gestrandeten ihr Kind zur Welt. Der Steward und die Stewardess, beide namenlos, aber offensichtlich primär hormongesteuert, befinden sie sich ständig auf der Suche nach einer Nische für einen Quickie: Ihr unüberhörbarer grand orgasm auf der Toilette vom Publikum mit Lachen quittiert, von der Controllerin mit Abscheu: „disgusting!“
Die Konstanten in den dramatis personae bilden Controller, Immigration Officer und Refugee. Sie bleiben, wenn alle weiterreisen nach dieser ereignisreichen, turbulenten Nacht. Den Impuls für die Komposition dieser Oper erhielt Dove durch das Schicksal des Iraners Mehran Karimi Nasseri, genannt Sir Alfred, der 16 Jahre lang als Staatenloser auf dem Flughafen Charles de Gaulle in Paris lebte. Die irrsinnigen Lebensumstände dieses eigentümlichen Menschen lassen Dove und de Angelis außer Acht und schaffen eine Figur mit einer anrührenden Geschichte. Ausgestattet mit den Attributen des sozialen Underdogs, in schlabbrigen Klamotten und mit all‘ seiner Habe auf einem Kofferwagen, bittet er die Reisenden um Almosen. Ihn friert, er hat Hunger. Nur widerwillig helfen die. Aber er ist der Sensible unter diesen Rast- und Ruhelosen. Er hat Zeit. Er wartet – auf seinen Bruder, wie sich später herausstellen wird. Um die Nöte der anderen zu lindern, drückt er ihnen jeweils einen Stein in die Hand. Ein Guru, der esoterisch-betörend die Magie der Steine beschwört: „You must believe.“ Dieser Zauber stellt sich als hohle Versprechung heraus, aber für den Moment schöpfen alle Hoffnung. Die Quittung für den „Messias“, der seine Heilsversprechen nicht einlöst? Er wird zusammengeschlagen und in eine Transportkiste gepackt.
Die Partie des Refugee schreibt Dove einem Countertenor auf die Stimme. Inspiriert von den Falsettsängern in Persien, die bereits im 9. Jahrhundert belegt sind, aber auch als Bindeglied zwischen den alltäglichen Beschwernissen und dem grenzenlosen Himmel. Der Refugee ist ein Fluidum – irgendwie zwischen allem. Die hohe Männerstimme verbindet ihn ebenfalls mit der Controller-Dame. Den Refugee ständig im Blick, sorgt sie sich um sein Wohlergeben und erwirkt bei dem strengen Immigration Officer ein geduldetes „Bleiberecht“ für den Flüchtling. Die Doppeldeutigkeit im Titel von „Flight“ als Flucht oder Flug zeigt sich als thematisches Zentrum für die Oper. Symptomatisch enthüllen die Menschen einen Wendepunkt in ihrem Leben. Wohin geht die Reise? Weitermachen? Fliehen? Ein neues Leben anfangen? Die Opernhandlung entscheidet sich für das Weitermachen und den Weiterflug: Bill und Tina fahren trotz Bills homoerotischer Eskapade frohgemut gemeinsam in den Liebesurlaub. Das Diplomatenehepaar tritt die neue Stelle mit einer völlig neuen Haltung zum Leben mit dem Baby an, Steward und Stewardess driften in verschiedene Richtungen und die ältere Dame visiert bereits das nächste romantische Abenteuer an, um ihrer Einsamkeit zu entkommen.
Adriana Altaras, renommierte Schauspielerin und Autorin, zeigt in Bonn mit ihrer zweiten Regie (nach Li-Tai-Pe in 2022) eine vor Bühnenideen überbordende Inszenierung. Eine authentische Abflughalle, bei der durch die Panoramafenster per Video der reguläre Flugbetrieb ständig präsent ist – bis Sturm, Regen und Schnee Himmel und Wolken in allen Variationen zeigt. Ebenfalls zugegen eine Ballerina, ein geschäftsmäßiger Drogendealer, die Heiligen Drei Könige mit ihren Gaben für das Kind. Wenn der Steward und Bill nach ihrer sechsminütigen Liebesszene den Hosentausch vollziehen, lacht das Publikum: Slapstick wie in der Boulevardkomödie. Überflüssig allerdings wie manches andere an Party-Beiwerk der vom Firmament schwebende Astronaut: Er lenkt von der Schlussarie des Refugee ab, in der er seine blutende Seelenwunde offenbart. Sein Bruder hat den gemeinsamen Fluchtversuch nicht überlebt. Er fiel vom Himmel „like a frozen star“. And that says it all!
Das Ensemble der Oper Bonn harmoniert stimmstark mit den Gastsängerinnen und -sängern. Wunderbar aus der „alten Garde“ Susanne Blattert mit ihrem klangschönen Mezzo und dem herrlichen Sinn für komödiantische Darstellung und Mark Morouse als äußerst distinguierter, baritonaler britischer Diplomat, Perücke und Accessoires toll für die jeweiligen Rollen! Ihm zur Seite die Gattin zunächst als It-Girl, das mit Wehmut das Gucci-Kleidchen gegen Babynahrung tauschen muss, aber dann echte Muttergefühle entdeckt. Dramatisch schön präsentiert von Sarah Mehnert. Das junge Paar Bill und Tina singen, spielen und tanzen Ava Gesell und Samuel Levine. Ava Gesell bringt eine springlebendige Energie ins Geschehen, während der Amerikaner Levine, als Tenor an der Juilliard School ausgebildet, seinen Bill vom Langweiler zum experimentierfreudigen Lover entwickelt. Wie eine Marionettenspielerin hält Sophia Theodorides die Fäden der Handlung in der Hand: Die höchsten Töne lässt sie in scharfen Koloraturen aus der luftigen Höhe ihres Kontrollturms erklingen. Sein Debüt an der Oper Bonn gab das neue Ensemblemitglied Christopher Jähnig, dessen wohlklingender Bass und athletische Größe ihn für die Rolle des zunächst strengen, dann konzilianten Immigration Officer prädestiniert. Ensemble-Bariton Carl Rumstadt sang gegen die libidinöse Überfrachtung seiner Rolle als allzeit-bereit-Lover an. Chapeau für die sportliche Note, den Erweckungssex mit Bill und großes Kompliment für den seriösen Gesang in stets derangierter Klamotte.

Benno Schachtner ist ein hoch angesehener Countertenor, der das Bonner Publikum bereits in zwei früheren Produktionen beeindruckte: als Titelfigur mit dem himmlischen Hymnus in Philip Glass‘ Oper Echnaton (2018) und als Ottone mit dem Lamento in Händels Agrippina (2023). Nun also gibt er den Geflüchteten, stimmlich dem Himmel so nah. Benno Schachtner spielt den schwer traumatisierten quasi amputierten Zwilling sehr überzeugend. Sein Ausdruck vermittelt ernste Empathie für seine Mitmenschen. Schachtners Stimme mit diesem sanften Anschlag und der makellos klaren Intonation berührt im tiefsten Inneren.
Selten genug trifft man bei der Premiere auf den Komponisten des Werks – Jonathan Dove war bei der Premiere anwesend. Das mag den Dirigenten Daniel Johannes Mayr noch zusätzlich angefeuert haben, mit dem Beethoven Orchester wirklich alles an rhythmischen Volten, an kompositorischen Finessen, an lyrischen Passagen und dem Crescendissimo im Gewitter aus der Partitur herauszuholen. Wer Bonner Produktionen wie Benjamin Brittens Peter Grimes noch im Ohr hat, Rossinis La Cenerentola, Philip Glass‘ Echnaton oder Leonard Bernsteins West Side Story, hörte Bekanntes heraus. Dove siedelt sich selbst in der Tradition dieser Musiktheatergiganten an – und verfremdet die Anklänge mit ironischen Brechungen, rasanten Tempowechseln und konterkarierenden komischen Elementen.
Dem Publikum gefiel dieser leichtfüßige Opernabend; es lachte an zahlreichen Stellen und spendete begeistert Beifall: stehende Ovationen! Am Ende war doch alles gut. Flight hinterließ den entspannten Eindruck einer Traumschiffepisode am Sonntagabend: zu seicht für diese Tragikomödie?
Das Theater Bonn spielt die Oper Flight noch sechsmal bis zum 24. März 2024. Infos und Tickets hier.
Es freut mich, dass Adriana Altaras wieder in Bonn inszeniert. https://operasandcycling.com/titos-glasses-in-osnabruck/
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War zuerst von der Bilderflut überfordert – wie im wirklichen Leben auch – aber dann zunehmend fasziniert von Stimmen und Geschehen..
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