Aus der Dunkelheit Musik wie ein heftiger Schlag ins Gesicht: schrill, laut, dissonant beginnt die Ouvertüre zur Oper The Strangers des Amerikaners Frank Pesci.

In der Mitte des schwarzen Raums ein abgetrenntes Rondell, das Platz für 16 Musiker eines Kammerorchesters bietet. Kein Graben, keine Bühne. Stattdessen gruppieren sich um die orchestrale Insel herum sechs Schauplätze, deren Form und Besetzung sich ständig wandeln. Eine mobile Show, die dem Publikum – in dem fast intimen Raum finden 300 Zuschauer Platz – immer wieder neu Perspektiven, immer neu Nähe und Distanz zum Geschehen vermittelt.
Was passiert? Was lädt zum Mitfiebern ein? Ein true-crime plot (ein Verbrechen, das sich tatsächlich so zugetragen hat) bildet den Kern der Handlung. Im New Orleans der Jahre 1890/91 kommen die ersten Immigranten aus dem bitterarmen Sizilien an. Wie alle Einwanderer wollen sie ihren Traum leben: durch harte Arbeit ein gutes Leben erlangen. Nun wird der Chief of Police auf offener Straße niedergeschossen und der Verdacht fällt sofort auf die Dagos, die „Itaker“, namentlich den unerschrockenen Emmanuele Polizzi. Zusammen mit 11 anderen Sizilianern wird er festgenommen, aber die Jury erteilt ihnen einen Freispruch. Daraufhin rottet sich ein Mob von zwischen fünf- bis zehntausend Menschen zusammen, die die Häftlinge lynchen. Die wahren Täter allerdings werden nie ermittelt.
Soweit die historisch belegten Fakten, die die Regisseurin Maria Lamont in eine Rahmenhandlung kleidet. Eine gemischte Gruppe bestaunt in einem Museum (das es tatsächlich in New Orleans gibt) die Exponate aus der Zeit von vor gut 130 Jahren. Kleidung, Lebensstil, Arbeit, Wohnverhältnisse, Familienkonstellation und ein kleiner Hausaltar mit Gebetsbank sind zu sehen, ein Animateur führt durch die Ausstellung. Wie Zeitreisende werden diese Menschen aber zu Akteuren; denn das Ensemble spielt auch die stummen Museumsbesucher.
Keine Verfremdung, kein „Regietheater“, keine Re-Interpretation der Handlung, sondern eine dramaturgisch lineare Anordnung – Lamont erzählt die Geschichte gradlinig, aber mit der besonderen Faszination für die fühlbare Nähe zu den Solistinnen und Solisten und deren Gesang. Von einem mobilen Podium zum anderen häutet sie wie bei einer Zwiebel die tieferliegenden Schichten der brutalen gesellschaftlichen Verrohung. Denn durch die Solo-Parts verdeutlichen sich die Vorgeschichte, das Ausmaß der Vorurteile, die Korruption, der Hass und die Verteilungskämpfe in einer sich wandelnden Bevölkerung und Gesellschaftshierarchie des melting pot der Vereinigten Staaten.
Kaum hat sich die große Welle der irischen Einwanderer nach the great famine in der Mitte des 19. Jahrhunderts besonders im law-and-order Polizeiwesen etabliert (daher Hennessy und O’Connor), schwadronieren sie erschreckend unverhohlen mit ihrer hasserfüllten Sprache. Was die wohl wollen, bringen doch nur Kinder und Krankheiten mit und am besten packe man sie alle auf ein Boot, das dann hoffentlich untergeht … Jedes weitere Detail erübrigt sich: Diese Rhetorik vermittelt faschistoides Gedankengut.
Natürlich gibt es auch eine herzerweichende Liebesgeschichte, eine italienische Mamma am Kranken- und Sterbebett des Sohns, die Solidarität unter den Schwestern, Tanten und Müttern, die kraftstrotzende Männergruppe. Liebesduette, mehrstimmige Quartette und inbrünstige Anbetungen zeigen das auch auf der musikalischen Ebene. Aber die Themen von Macht und die tiefliegende latente Gewaltbereitschaft erscheinen hier als die Wurzel allen Übels – bis zu den heutigen Auswüchsen in den USA.
The Strangers funktioniert deshalb so gut als einaktige Oper in sieben Bildern, weil das Libretto passgenau auf der Musik sitzt. Andrew Altenbach – selbst Sänger und Dirigent – zeugt mit seinem Text von seiner Erfahrung als Musiktheater-Akteur, seine Sprache im englischen Original hat eine präzise Taktung. Pescis Musik unterhält im besten Sinne mit einem Konglomerat aus Südstaatenblues, dem in der Zeit aufkommenden Dixie und Jazz, Spirituals, Kirchenmusik mit Hymnen und Chorälen, karibisch-kreolischen, afro-amerikanischen und europäischen Elementen. Zwischenspiele reflektieren die jeweilige Stimmungs- und Gemütslage: aufgewühlt-dissonant, schmeichelnd-lyrisch oder bläser-rhythmisch.

Die Oper Köln hat in der Besetzung einen feinen Ensemble-Cast zusammengestellt: Als Liebespaar Emily Hindrichs und John Heuzenroeder, Hennessy und seine Mutter singen Miljenko Turk und Regina Richter, Martin Koch als O’Connor und David Howes als die Einwanderer zweiter und dritter Generation, als Mama Costa, Catarina Costa und Zia Francesca singen und spielen Dalia Schaechter, Maria Koroleva und Adriana Bastidas-Gamboa. Am Pult des „kleinen“ Gürzenich Orchesters Harry Ogg.
Frank Pesci lebt und arbeitet in Köln, The Strangers hat er als Auftragswerk für die Oper Köln als seine sechste Oper komponiert. Köln gilt zu recht als weltoffene Stadt; auch hier mag Pesci die vibes für sein Werk aufgepickt haben. Denn die Initiative Arsch huh zum Beispiel „engagiert sich seit über 30 Jahren gegen Neonazis, Rassismus und Ausgrenzung und für eine solidarische Stadtgesellschaft in Köln“* und bringt bei Events mehr als 10.000 Menschen auf die Straße. Pesci und Altenbach haben eine Oper geschaffen, die hör-, sicht- und spürbar vor Augen und Ohren führt, was Fremdenfeindlichkeit in all ihren Facetten an Gewalt und Leid produziert, und setzen damit auch ein politisches Statement. Dazu zitiert der Komponist selbst Mark Twain „History does not repeat itself, but it rhymes.“
Allerdings – Frank Pesci hat als Amerikaner auch das Versprechen seines Herkunftslands (mit italienischen Vorfahren, dem Namen nach zu urteilen) und entlässt das Publikum nach dem Schock-Effekt der Lynchjustiz mit einer friedlichen, sehr berührenden Schluss-Apotheose. Der gesamte Cast singt die letzte Strophe eines Gedichts von Emma Lazarus von 1883, „Der neue Koloss“, die Statue of Liberty in New York.
„Give me your tired, your poor,
Your huddled masses yearning to breathe free,
The wretched refuse of your teeming shore.
Send these, the homeless, tempest-tost to me,
I lift my lamp beside the golden door!“
(Gib mir deine müden, armen, geduckten Massen,
die sich nach freiem Atmen sehnen,
den erbärmlichen Müll eurer wuseligen Küste.
Schick mir diese, die Heimatlosen, die durch Stürme Geschüttelten,
Ich halte meine Lampe hoch neben der goldenen Tür.)
Fazit: Ein nachdenklich stimmender Opernabend mit warmherzigen, versöhnlichen Tönen im Epilog. Komponist, Librettist und Regisseurin erzählen eine alte Geschichte in historischen Gewändern ganz neu und hochaktuell.
Hingehen, Jugendliche mitnehmen, diskutieren, Geschichtsbewusstsein schaffen!
Die Oper Köln spielt The Strangers noch viermal bis zum 14. Oktober 2023. Infos und Karten hier.