Vom rechten Wege abgekommen und doch ein Leuchtturm in moralischer Größe und menschlicher Würde – so inszeniert der legendäre Dieter Dorn Verdis La Traviata an der Staatsoper in Berlin. Die aufsehenerregende Premiere war bereits im Dezember 2015 noch im Schillertheater am anderen Ende der Stadt zu hören und zu sehen. Damals mit Generalmusikdirektor Daniel Barenboim am Pult.
Und nun in der wiedereröffneten Staatsoper Unter den Linden. Inmitten von Bauzäunen und irreleitenden Fahrspuren bremst das Taxi im Halteverbot, das gleichzeitig als Bushaltestelle dient. Dit is Baliin! Lassen wir zunächst das noble Ambiente auf uns wirken. Das vornehmste Theater der Stadt – nach gefühlt unendlicher Geschichte der Renovierung – lädt hinter Säulen in das kristalllüsterne Interieur. Fürstlich mag man (und frau auch) sich fühlen, aber der ureigene Charme der Hauptstadt neigt zum downdressing. Die Operngäste finden sich eher sehr leger gekleidet ein, Fernseh- und Politgrößen in Jeans und Pulli, null Glitz & Glamour.

In der gar nicht kleinen „Konditorei“ im Souterrain reichen flinke Hände Pausendrinks und -snacks. Hier findet sich außer tout Berlin vor allem auch tout le monde ein: Eine große Sprachenvielfalt von breitestem mid-western American English bis zu asiatischen Klängen.
Klänge – nehmen wir unsere Plätze ein und stimmen uns mit den Akteuren im Graben auf die so typische Verdi-Musik ein. Bittersüß wickelt die Ouvertüre mit den Streichern das Publikum ein, an der Vorahnung des Todes ändern auch die leichteren Töne kurz darauf nichts. Denn auch das Auge sieht, was das Ohr hört. Eine schwarze Bühne mit fünf Türen, durch die der Chor immer wieder auf- und abtreten wird, von der Champagnerarie bis zum Zigeuner- und Matadorchor. Die vermeintlich feine Gesellschaft und das fahrende Volk (ja, politisch nicht korrekt, aber der Zeit geschuldet) sind bunt gekleidet, alle anderen in gedeckten Farben gehalten.
Violetta (verheißt nicht der Name die Farbe des Jahres 2018?), die Edelkurtisane der Pariser Gesellschaft, trägt einen schwarzen Unterrock. Es sei denn, sie geht auf ein Fest – dann ist ihr Glitzeroutfit Sinnbild für den schönen Schein der Amüsier- und Feierlaune. Wie soll sie auch die oberflächliche Fröhlichkeit der Bälle aufrechterhalten, wo sie weiß, dass sie dem Tode geweiht ist. Verdis La Traviata greift Mitte des 19. Jahrhunderts sehr mutig und vor der breiten Bewegung des Verismo zwei „heiße Eisen“ an. Nicht nur den Tod und das Sterben (das ist ja auf der Bühne an der Tagesordnung), sondern Krankheit, Siechtum und Vergänglichkeit in einem erotisch aufgeladenen Milieu darzustellen, das den typischen Operngängern der Zeit den Spiegel vorhält. Verdi bleibt ganz nah dran am Roman „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas dem Jüngeren. Ganz folgerichtig legt Annina während der Ourvertüre eine weiße Kamelie auf den Souffleurkasten, der aussieht wie ein Sarg.
Auf dem Höhepunkt ihres Begehrtseins als Edelkurtisane schlägt nun bei Violetta die Liebe ein wie ein Blitz. Als sie Alfredo Germont, einen wohlhabenden Lebemann, auf dem Fest erblickt, verstummt die Musik. Die Liebe ist nämlich die höchste (Himmels-)Macht. Sie zieht mit ihm in ihr Landhaus – oh die Unschuld des Pastoralen! Weg vom Sündenpfuhl Paris, hin in ein bürgerliches Leben Hand in Hand. Sie, die gesellschaftlich weit Unterlegene, bezahlt diese „Party“. Eine Frau, die buchstäblich ihr Leben selbst in die Hand nimmt? Oder eine, die ein einziges, erstes und letztes Mal wahre Gefühle leben will? Auf jeden Fall hält nun kein Freier sie aus – und das wirft ein Licht voraus auf die Szene, in der Alfredo ihr wutenbrannt und rasend vor Eifersucht Geldscheine um die Ohren haut. Als Bezahlung für ihre Liebesdienste! Diesen Verlust an Contenance (brechen nicht genau dann die wahren Gefühle hervor?) muss er mit einem Duell und mit Verbannung bezahlen. Er hat die grundlegende Übereinkunft dieser Gesellschaft verletzt.
Selbstverständlich geht auch für Violetta der Traum aller Prostituierten nicht in Erfüllung – it’s doomed to fail. Nie wird sie an der Seite des geliebten Mannes ein „ehrbares“ Leben führen. Dafür sorgen die Normen, die Alfredos Vater, der alte Germont, personifiziert. Seine innig geliebte Tochter soll heiraten, die mesalliance allerdings zwischen ihr und Alfredo werfe ein schlechtes Licht auf die Familie und sie müsse deshalb auf seinen Sohn verzichten.

Liebe plus Großmut plus Verzicht = wahre Größe?! Die schwerste Bürde ist für sie, Alfredo zu belügen, sie liebe ihn nicht. Aber Violetta, all‘ den reichen, gut situierten und gebildeten Menschen an Stand und Ansehen weit unterlegen, beweist, wie integer ein Mensch am anderen Ende der gesellschaftlichen Skala sein kann. Durch ihren Verzicht beraubt sie sich der Lebensfreude ihrer letzten Tage und nimmt in Kauf, allein und gehasst zu sterben. Sie, die Vertreterin eines moralisch zweifelhaften Gewerbes, entlarvt die Nutznießer dieses Systems mit all‘ ihrem Standesdünkel als hohle, an der Oberfläche und aus erhabener Position moralisierende Schwächlinge. Sie beten den Gott Mammon an und die Reputation unter ihresgleichen.
Nicht Eros entpuppt sich als Violettas Compagnon auf der Bühne, sondern Chronos. Unerbittlich rinnt aus einem grauen Sack feinkörniger weißer Sand: Die Eieruhr der Lebenszeit. Für Violetta knapp bemessen. Das allerdings genügt Dieter Dorn nicht, um die Unausweichlichkeit von Violettas absolut gesetzten Entscheidungen zu verdeutlichen. Sie agiert zwei Stunden lang auf dieser dunklen Bühne vor einem knapp fünf Meter hohen Spiegel, den wie ein Spinnennetz Risse und Sprünge durchziehen. Hier liegen ein Leben und eine Gesellschaftsordnung (?) bald in Scherben.
Die Regie unterstützt diese Botschaft genial mit Tänzerinnen und einem Tänzer, die hinter dem Spiegel einen Totenkopf aus Körpern formen und gegen Ende aus dieser Formation nicht mehr ins Nichts verschwinden, sondern vorne auf der Bühne Violetta immer näher und zuleibe rücken. Die Eleganz dieser Todesbotschaft vermittelt sich sehr eindrücklich.
Braucht es mehr Bilder? Benötigen wir mehr Text? Wohl kaum, Verdis Musik schafft die kongeniale Verbindung von Geschehen und Geschichte. Getragen von den Streichern, bei denen manche Kritiker das Verdi’sche m-ta-ta im Nahezu-Walzer monieren, nimmt sie die Zuschauer und vor allem Zuhörer mit. Das Unbeschwerte, das Glück, die Entsagung, die Todesangst, die Reue, die Versöhnung am Ende (als Alfredo der Sterbenden Abbitte leistet), die Betroffenheit der Handelnden und Umstehenden – all‘ das und vor allem die Liebe, selbst durch den Tod nicht zu überwinden, evoziert Mitlieben, Mitleiden, Mitfühlen.
Wenn Guiseppe Verdi die großen Leidenschaften in seine Musik gelegt hat, dann wundert es kaum, dass auch knapp 180 Jahre nach der Uraufführung die letzten sieben, acht Minuten wie eh und je Gänsehaut verursachen. Im Schlussapplaus wird deutlich, wie die große Spannung sich löst und der Bann des Bühnengeschehens bricht.
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„Ich finde die Inszenierung gelungen und gut durchdacht, aber mitgerissen hat sie mich nicht.
Da denke ich an viele großartige Opernabende in Bonn zurück, die packender oder überzeugender waren.“ Linda Tillmann lebt in Berlin und liebt die Oper, seit sie mit 12 Jahren die legendäre Zauberflöte in der Oper Bonn mit der Schule besuchte. |
Voll besetzt war die Staatsoper Unter den Linden. Kein einziger Platz im Parkett blieb leer, die Ränge bis schwindelnd hoch von begeisterten Zuschauern eingenommen. Und dann geschah etwas nie Gesehenes. Liparit Avetisyan, der stimmsichere Tenor in der Rolle des Alfredo Germont, riss beim Einzelauftritt in der Applausrunde die Arme hoch wie ein Skispringer nach einem Rekordflug von 140 m. Er strahlte ob seiner grandiosen Leistung und das Publikum stieg in diesen Dialog ein. Gleichzeitig bereitete er damit die Verbeugung vor dem Vorhang von Elsa Dreisig vor, der auch in den Höhen zart formulierenden Sopranistin als Violetta. Sie lachte und lachte und lachte – befreit, glücklich, dankbar. Und das gesamte Publikum klatschte begeistert, anerkennende Pfiffe und viele Bravas und Bravos inklusive.
In Bonn erwartet uns La Traviata als Wiederaufnahme in dieser Spielzeit vier Mal. Tickets für den schon weitgehend ausverkauften Termin am 24. März gibt es hier.
When in Rome … do as the Romans. Ihr kennt diesen Wahlspruch der Reisenden, die sich rasch an die örtlichen Gepflogenheiten anpassen. In Berlin heißt das, von dem großartigen Angebot seeeehr unterschiedlicher Tageszeitungen Gebrauch zu machen und zum Frühstück ausgiebig zu lesen. In der Berliner Morgenpost las ich „Kein Traum: Auf dem Sprung ins Ensemble.“ Im Rahmen des Internationalen Opernstudios erhalten junge Talente die Chance, von Beginn an in bedeutenden Produktionen mitzuwirken und große Partien zu übernehmen. Junge Sängerinnen und Sänger als „Trainees“ – lest selbst oder schaut hier!
