Die Tote Stadt – ein musikalisches Psychogramm

Eine Stadt im Nebel, modrig vom brackigen Wasser der zahlreichen Kanäle – so dient das belgische Brügge als Metapher für das morbide Innenleben eines Mannes, an dem das Leben nach dem Tod der geliebten Ehefrau fast vorbeizieht. Erich Wolfgang Korngold entblättert in seiner Oper Die Tote Stadt schicht- und facettenweise Pauls Lamento, Last, Lust und Liebe. Am 4. Dezember 1920 wurde die Oper in Hamburg und Köln gleichzeitig uraufgeführt. Zum 100-jährigen Jubiläum setzte die Oper Köln auf den Tag genau das Stück auf den Spielplan.

Wer als Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Wien lebte, war mit der Psychoanalyse und der Traumdeutung Sigmund Freuds vertraut, hatte die verletzte Seele von Strauss‘ Elektra auf der Opernbühne erlebt und die expressive Musik & moves von Igor Strawinsky in Sacre du Printemps. Triebe und Träume rückten in das Forschungsfeld von Wissenschaft und Kunst. Picasso variierte das gegenständliche Malen in kubistischen Perspektiven – die Beleuchtung des Sujets aus mannigfachen Perspektiven wurde state of the art, im wahrsten Sinne des Wortes.

Daraus leitet sich der Bühnenaufbau der Jubiläumsinszenierung in Köln ab. Um einen geriffelten Zylinder herum schließt sich der Kreis eines Night Club Tresens. Gelangweilte, stumme Zecher blicken trostlos in ihr Glas. Jede und jeder für sich. Der Kreiskörper in der Mitte erinnert an ein Kaiser-Panorama, an den Vorläufer der movies, der bewegten Bilder. Bevor Filme populär wurden, setzten sich Gäste rund um das Gerät und blickten auf Diaramen mit Bildsequenzen aus fernen Ländern. Der heutige Zaungast allerdings ist abgefüllt, übersättigt. Medienzauber genug. Und statt Bilder einer Bildungsreise öffnet sich das Innenleben der Protagonisten.

Als da wären: Paul, der Witwer der legendär schönen, reinen und liebreizenden Marie, Brigitta, seine Haushälterin, Marietta, ein Varieté-Girl, Frank, Pauls einziger und bester Freund, und eine Gauklertruppe, die aus dem Film Cabaret stammen könnte. In der schaurig-schönen Stadt Brügge hat Paul seiner verstorbenen Gattin ein Mausoleum errichtet, mit ihrem Bild, ihren Kleidern, ihrem Haarzopf und ihrer Laute. Das Kleid und der Shawl weiß, in der Farbe der Unschuld und der Haarzopf rotgold. Bis zur Renaissance war rotes Haar den Madonnen und Engeln vorbehalten und steht gleichzeitig für zügellose Sexualität. Also die Hure und die Heilige. Aus unerfindlichen Gründen ändert die Regisseurin Tatjana Gürbaca Text und Ausstattung und präsentiert ihre Marie(tta) mit einem schwarzen pixie cut.

Da hätte sie auch aus Marietta ein kölsches Marieschen machen können … Offensichtlich allerdings verkörpert die Varietésängerin und -tänzerin, voller Lebenslust und erotischer Energie, gleichzeitig sowohl die Wiedergängerin als auch das alter Ego der toten Marie. Will sagen, die Askese und die Triebhaftigkeit sind bei allen Menschen gleichermaßen angelegt und entfalten sich im individuellen Umfeld. So verfällt der gesittete Paul (bis hin zu Sado-Maso Spielen) wie der Professor Unrat (Heinrich Mann, 1904) den Reizen der Frau aus dem Künstlerumfeld. Auch Paul gibt seinen erotischen Wünschen nach und auch er durchmisst den Machtkampf in solchen Beziehungen. Dass sein Freund Frank Mariettas Verführungskünsten ebenfalls erliegt und sich daraus ein Bruderzwist ergibt, ist nahezu folgerichtig. Wem die Gunst zufällt (biblisch erzählt zwischen Jakob und Esau), geht als Sieger vom Platz.

Paul, der Rechtschaffene, fühlt sich von beiden Konflikten völlig überfordert und ermordert sowohl seinen einzigen Freund wie auch seine Geliebte; den einen wirft er in den Kanal, die andere erdrosselt er (in der Originalfassung mit dem Zopf der Toten). Apropos gegenständliche Attribute – die Laute versinnbildlicht natürlich, dass auch Marie eine lyrische, sinnliche Seite hatte. In Tatjana Gürbacas Inszenierung allerdings entpuppt sich die Laute als kleines Plastikspielzeug von der Kirmes, der konsequenten Farbchoreografie geschuldet in blau.

Aber das Stück schillert zwischen Tag und Nacht, Traum und Wirklichkeit. Die Grenzen der Wahrnehmung verwischen, der Prüfstein für die Realität schwer zu finden. Wie aus den Erlebnissen einer anderen Welt kommt Paul zu sich, Marietta und Frank leben. Seine ungezügelte Fantasie, die im Traum die Schranken der Kognition und Zivilisation überschreiten, hat ihn seine eigenen Abgründe, inklusive Mordgelüste, spüren lassen. Sexuelle Ausschweifungen und Gewalt sind von Edgar Allen Poes und E.T.A. Hoffmann bis zu Kubricks Film Eyes Wide Shut bis heute Motive dieses Genres.

Aušrine Stundyte, Burkhard Fitz, Wolfgang Stefan Schwaiger

Am Ende – auch das abweichend von der Originalfassung – schlitzt Paul sich die Kehle auf. Das Stigma MÖRDER seiner nächtlichen Eskapaden in der Pseudo-Realität lässt ihn nicht los. Offensichtlich gibt es heute, 100 Jahre nach der Uraufführung, kein Entkommen aus diesen Verstrickungen, keinen Aufbruch in ein anderes Leben.

Als Antagonisten dieser geschlossenen Gesellschaft treten die Künstler auf. Draußen, im Freien. Sie tanzen, singen, verbreiten und huldigen ihrem Star, der bezaubernden Marietta. Wie die Colombine der commedia dell’arte sei sie. Eine faszinierend flatterhafte Frau, die nachts tanzt und Champagner trinkt. „Und doch, weil sie so ganz heißes Leben ist, im Lachen ihrer Schönheit, erhöhet sie das Leben. So wie wir nun im Traume fliegen, fliegt sie mit wachem Sinn, zwingt uns als Pierrots ihr zu Füßen, und Colombine tanzt und lacht die Sünde weg, berauscht … „(Frank). That says it all, in a nutshell.

Korngold war gerade 23 Jahre alt, als er dieses Werk komponierte. In so jungen Jahren so tief in die menschlichen Abgründe, Ängste und Neurosen zu blicken, zeugt von einer reichen Imagination. In seinem Vater, der unter Pseudonym das Libretto verfasste, hatte er einen ebenso erfahrenen wie sprachlich hochtalentierten Mann zur Seite. Dessen Ausdrucksweise kommt mit einer ähnlich breiten Bildlichkeit daher wie die Musik des Sohnes. Ich empfehle es schon der Sprache wegen zur Lektüre. Wie schön, in den Untertiteln Wörter wie „Mittagsglast“ oder „zweifelswund“ zu lesen. Präzis charakterisiert er die Milieus: Komplexe, bilderreiche Sprache für Paul und seine Schicht, plumpe Reime für die Tänzergesellschaft.

Zwei Stunden Musik, die einen zum Schwelgen verführt. Korngold malt Bilder mit Noten, Breitwandkulisse. Harfen erklingen, wenn Hoffnung himmelwärts steigt. Die Celesta (offensichtlich ein Modeinstrument der Zeit) begleitet Marie, Hörner schicken Träume wie die Toten. Nicht enden wollend der tutti-Einsatz, wenn Paul sich dem Pomp der Prozession hingibt. „Des Glaubens selig süße Frenesie zwingt alles auf die Knie.“ Wer wie ich das Wort nicht kennt, der erschließt es sich aus dem Kontext: Inbrunst, Leidenschaft.

Die Tanzszenen der Compagnie erinnern an das Ballett in der fünfaktigen grande opéra, das Spiel im Spiel, Meyerbeers Robert der Teufel trägt Züge des Königsmords wie kurz vor dem showdown in Shakespeares Hamlet. Das Sterben und der Tod, elegisch begleitet, stets präsent. Im Kontrast dazu die wunderbare Bariton-Arie „Mein Sehnen und mein Wähnen“ zu Klängen eines Wiener Walzers, das Duett zwischen Marietta und Paul „Glück, das mir verblieb“, begleitet von Röhrenglocken und tiefen Streichern. Rührend und melancholisch, auch wenn Marietta die Stimmung mit einem „Ach, das dumme Lied“, wegwischt. Der zauberhafte Kinderchor aus dem Off klingt so zärtlich und engelsrein – auch hier als Kehrseite der Medaille vom lockeren Lebenswandel der Künstlertruppe.

Wenn das Gürzenich Orchester unter Gabriel Feltz so klangsprühend aufspielt, gelingt eine Oper wie Die Tote Stadt nur mit ausgezeichneten Solisten. Für Pauls Rolle wären eigentlich zwei Sänger notwendig: ein lyrischer Tenor und ein Heldentenor. Es sei denn, ein Burkhard Fritz singt und spielt. Fabelhaft, rollengerecht, überzeugend. Viel Kraft und langen Atem in den dramatischen Szenen, die Finesse der lyrischen, auch hohen Modulation in der Zerbrechlichkeit des Helden. Aušrine Stundyte als Marie und Marietta bringt mit, was Strauss- und Korngold-Soprane brauchen. Sie meistert halsbrecherische Sprünge und hat am Ende noch Reserven für die zärtlichen Töne wie für die explosive Abrechnung mit der Toten.

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Dalia Schaechter und Burkhard Fritz

Sehr gut besetzt ebenfalls Wolfgang Stefan Schwaiger als Frank und Dalia Schaechter als Brigitta. Rein physisch die Gegenentwürfe zu Paul und Marietta und schon deshalb besonders plastisch als Facetten „der Frau“ und „des Mannes“. Bariton und Mezzo klassisch das Liebesglück vereitelnd, beide, weil sie selber emotional involviert sind. Frank liebt Marietta und Brigitta ihren Herrn. Letzteres ist wörtlich zu nehmen. Als subalterne Dienerin weiß sie alles, kommentiert alles, konserviert alles. Sie erinnert an die Zofen der Filme von Luis Buñuel, ihr Fetisch das Abschirmen ihres verehrten Paul gegen alle Veränderung.

Korngold musste Europa verlassen und fasste als einer der wenigen jüdischen Künstler in der Emigration schnell Fuß. Zwei Oscars für Filmmusiken zeugen von seiner modernen musikalischen Bilder- und Notensprache. Lange bevor es das technisch gab, komponierte er Cinemascope.

Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung der Oper Köln, © Paul Leclaire

3 Kommentare

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  1. Thomas Hellgrewe

    Für mich ist Tatjana Gürbaca eine weit überschätzte Regisseurin. Habe nicht wenige Ihrer elenden Inszenierungen gesehen, nicht eine hat mir gefallen. Wie kann man ein Werk wie „Die tote Stadt“ -faszinierend und mitreißend- nur derart verhunzen?!
    Müsste eigentlich bestraft werden. Glücklicherweise gab‘s diesmal keine Kartons auf der Bühne, die in den besten Momenten umgestoßen werden. Wie bei Salome in Essen – fürchterlicher Schrott.

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  2. arcimboldis_world

    Ich habe hier in Zürich ganz hervorragende Inszenierungen von Tatjana Gürbaca gesehen. Befreit von unnützem Müll. Konzentriert auf das Wesentliche. Korngolds „Tote Stadt“ ist tolle Musik, aber braucht eine wirklich gute Regie, kein einfaches Stück.

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