EIN BRIEF und CHRISTUS AM ÖLBERGE – Trojahn meets Beethoven

Ein Buch und das Buch der Bücher, leere und herbstlaubbunte Blätter, ein Lesebändchen als Stütze und der verzweifelt einsame Held, der den inneren Monolog nach außen kehrt. Manfred Trojahn komponierte als Auftragswerk für die Oper Bonn die Musik zu Hugo von Hofmannsthals fiktivem Text „Ein Brief“. Bonn erlebte die Welturaufführung dieser zeitgenössischen Komposition im spannenden Dialog zu Ludwig van Beethovens Oratorium Christus am Ölberge, den die Tänzerin, Choreografin und Regisseurin Reinhild Hoffmann in Szene setzte. 

Nach (und vor) so vielen klassischen Stücken auf dieser Bühne in den letzten Wochen bricht die völlig neue Musik Trojahns zunächst einmal mit den (Bonner) Hörgewohnheiten. Man meint, Anklänge an Richard Strauss zu hören, die großen Sprünge vom Kontrafagott in die Streicherspitzen irritieren. Das Anfangsmotiv von fünf Tönen spielt immer wieder das Cello, bevor es in die Bläser übergeht. In expressiven Steigerungen verdichtet sich das Motiv zwischen Bariton, Streichquartett und Orchester. Eine der Musikerinnen schwärmt von dieser Komposition, auch wenn sie ein Blatt der Partitur für nahezu unspielbar hält. 

Obwohl das Publikum mit der Musik zunächst fremdelte, brandete großer Beifall auf für den Bariton Holger Falk, THEATER BONN: EIN BRIEFder auch mühelos hohe Tenorlagen erklomm. Er interpretierte die Selbstzweifel, die Schaffensleere, die geistige Starrnis in 40 Minuten solo eindringlich und überzeugend. Knapp ein Drittel des „Brief des Lord Chandos an Francis Bacon“ vom 22. August 1603 blieb nach den Strichen übrig. Genug, um darzustellen, wie der Schriftsteller seinen Mangel an Form und das Gefühl des „alles zerbirst“ als existenziellen Konflikt erlebt. Der Widerspruch dabei: Er beklagt seine Unfähigkeit zu schreiben und äußert sich brieflich dennoch in rhetorisch und poetisch höchst entwickeltem Stil. 

Das Publikum erlebt ein Melodram, ein „leidenschaftlich-theatralisches Werk (…), in dem sprachlicher und musikalischer Vortrag zusammenwirken“.* Hier wechseln sich instrumentale Teile mit recitativo accompagnato und a capella ab und das Melodram wirkt dadurch hoch emotional. Das Leid macht Falk darstellerisch deutlich. Er dreht und windet sich, sucht Halt im überdimensionalen Lesebändchen des aufgeschlagenen Buchs, das ungefähr 2 x 3 Meter groß das Zentrum der Bühne bildet. Dort werden auch – wie auf dem Bildschirm eines aufgeklappten Laptops – Renaissance-Gemälde der großen Meister projiziert – ebenso wie auf die grauen Wände des Halbovals der Bühne. Trägt dieser Lord Chandos – den die Forschung als alter ego des Dichters Hugo von Hoffmansthal interpretiert – am Anfang noch ein elisabethanisches Wams, streift er dies ab, als er im Text seine Ästhetik von der Form auf die Inhalte lenkt. 

Versöhnlich endet der Brief, indem das erzählende Ich Liebe und Dankbarkeit „für den größten Wohltäter meines Geistes“ äußert. Der Dialog mit dem Vater oder dem väterlichen Freund als unsichtbarem Adressaten bildet die Klammer zum Beethoven-Oratorium. 

Wie der Denker von Auguste Rodin sitzt er da während des Vorspiels. Ohne die geringste Bewegung wahrzunehmen vermittelt sich eins: THEATER BONN: CHRISTUS AM ÖLBERGEHier vertieft sich ein Mensch in existenzielle Fragen. Beethovens Opus 85 gelangte in der Fastenzeit 1803 zur Uraufführung und konzentriert die Passionsgeschichte auf die Szene im Garten Gethesemane, am Fuße des Ölberges. Jesus ruft seinen himmlischen Vater um Beistand an: Er möge ihm Kraft geben, um diese übermenschliche Aufgabe zu vollbringen. Nichts Geringeres als die Rettung der Menschheit durch sein Leidensopfer lastet auf ihm. 

Die Regisseurin Reinhild Hoffmann und der Komponist Manfred Trojahn haben schon mehrfach miteinander gearbeitet. So gestaltet sie den kontemplativen, melodramatischen Monolog in Trojahns expressiver Musik sehr reduziert, auch als bildlichen Prolog zum reicher und vor allem tänzerisch ausgestalteten Oratorium. Die Ängste und Selbstzweifel der Christusfigur spiegeln, vermitteln, vertiefen die 10 jungen Frauen und Männer aus dem Folkwang Tanzstudio. Ähnlich wie im Opernstudio zeigen hier voll ausgebildete junge Tänzerinnen und Tänzer am Beginn ihrer Laufbahn ihr Können. Auch hier dreht sich der Protagonist um die eigene Achse oder er wird gedreht, hier schützen und leiten die Spiegelgestalten den Verfolgten. In perfekter Synchronie zeigen sie weiche Moves, in die auch der innerlich zerfressene Jesus „einstimmt“. 

Wie sagt doch Reinhild Hoffmann immer wieder in Übereinstimmung mit Pina Bausch: Mich interessiert nicht, wie die Menschen sich bewegen, sondern was sie bewegt. Jede Gefühlsregung getanzt und in körperlichen Ausdruck gebracht – das ist ebenfalls in dieser Inszenierung plastisch gelungen. Dazu tragen auch die Kostüme bei. Jesus, die Tanzcompagnie und Petrus tragen japanische Hakamas, die traditionell die Samurai kleideten und mit deren sieben Tugenden assoziiert wurden: Güte, Gerechtigkeit/die rechte Entscheidung, Höflichkeit/Etikette, Weisheit/Intelligenz, Aufrichtigkeit, Loyalität, Ehre/Respekt.** Hoffmann und die Kostümdesignerin Andrea Schmitt-Futterer interpretieren das Ethos des Stücks über kulturelle Grenzen hinweg. Die Hauptfigur dabei in Naturfarben, die Tänzerinnen und Tänzer in Grau und Petrus, der vor Rachegelüsten schäumt, in Schwarz.

THEATER BONN: CHRISTUS AM ÖLBERGEAus dieser farblichen Schlichtheit sticht die Figur des Seraph, des liebreizenden Engels ganz aus der Nähe des Gottesthrons, leuchtend in Madonnenblau hervor. Herrlich, die Himmelsfarbe im samtigen Faltenwurf des Bühnenlichts. Überzeugende Details, wenn Jesus und der Engel für das „Liebesduett“ die Mäntel ab- oder die Tänzer als Häscher Rüstungen anlegen. 

Und im Zentrum: DAS BUCH. Es bildet die Engelsflügel, es lässt die Tänzer eintauchen, es leuchtet wie ein Tempel im Goldschnitt der Seiten. Aus den Erzählungen aller vier Evangelisten hat der Librettist Franz Xaver Huber vor knapp 220 Jahren diese Szene verdichtet und auf ihre psychologische Tiefe ausgelotet. Und Beethoven hat das Leid, aber auch den Lob- und Preisgesang in erhabene Musik gewandet. Rezitative, Tenor- und Soprankoloraturen, Duett und Terzett, nahezu Vorwegnahme des Belcanto-Gesangs. Am Schluss der Chor der Engel „Welten singen Dank und Ehre dem erhab’nen Gottessohn. Preiset ihn, ihr Engelchöre, laut im heil’gen Jubelton.“ 

Marco Medved war sichtlich stolz auf die Leistung von Chor und Extrachor. Mit Recht! Die Sängerinnen und Sänger – ebenfalls gekleidet in allen Grauschattierungen, transportierten vom Bühnenrand eine solche Freude über das Heilsversprechen der Erlösung – strahlende Gesichter und strahlender Gesang. Vielleicht moderat abgewandelt: Hier interessierte nicht nur, wie die Menschen singen, sondern was sie singen! Die Solisten waren alle fabelhaft. Holger Falk als Lord Chandos meisterte bravourös einen höchst anspruchsvollen Sprechgesang im Brief. Als Jesus brachte Kai Kluge seinen sehr melodiösen und ausdrucksstarken Tenor zu Gehör, während Ilse Eerens dem Seraphen weiblichen Liebreiz und wahre Engelstöne verlieh. Kurz, aber stark in Ausdruck und Gefühl trug Seokhoon Moon als Petrus mit seinem Bass das Aufbäumen der Wut über Jesus‘ Verhaftung bei. 

Die christliche Botschaft, mit Tanz, Musik (Gesang und Orchester!) und überzeugender Darstellung vermittelt: „Du sollst nicht Rache üben, ich lehrt‘ euch bloss allein, die Menschen alle lieben, dem Feinde gern verzeihn!“ Das Premierenpublikum zeigte sich begeistert mit stehenden Ovationen. Und die Regisseurin flocht via Holger Falk einen Satz aus dem Heiligenstädter Testament ein, in dem Beethoven seinen Brüdern ankündigt, sich angesichts seiner Ertaubung selbst das Leben zu nehmen. „(…) solche Ereignisse brachten mich nahe an Verzweiflung, es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben – nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück.“ Auch ein Credo.

*www.dwds.de
** http://www.wikipedia.de

Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung des Theater Bonn © Thilo Beu

Ein Blogartikel zum Podiumsgespräch mit Manfred Trojahn und Reinhild Hoffmann findet sich hier.

Karten für die fünf verbleibenden Vorstellungen bis zum 11. April 2020 gibt es auf theater-bonn.de 

4 Kommentare

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  1. Nemorino

    Vor zwei Jahren hier in Frankfurt erlebten wir Holger Falk in der Titelrolle von Manfred Trojahns „Enrico“.
    Holger Falk war schon zweimal bei mir zu Gast bei den VHS-Opern-Gesprächen, als glühender Befürworter der neuen Musik.

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