Hank Irwin Kittel – Bühnenbildner mit Liebe zur Oper

Nie sollst du mich befragen … Allen Opernfans klingeln sogleich das Leitmotiv und die Schicksalsfrage aus Wagners Lohengrin im Ohr. Folie2Ähnlich wie die verunsicherte Elsa und doch ganz anders frage ich meinen Gesprächspartner nach seinem Namen. Wie kommt ein Mann, Anfang der 60er Jahre in der Nähe von Heilbronn geboren und aufgewachsen, an einen niederländisch-englisch anmutenden Namen? Ganz einfach – in einer Laune seiner studentischen Künstlergruppe, die im „Brimborium“ tagte und feierte, erfand eine Kommilitonin diese doch leicht exotische Kombination. Flugs warf er den bürgerlichen Namen (Helmut? Günter? Hans-Peter?) über Bord und blieb für immer bei diesem neuen Nomen. Ob er auch Omen ist? Als „Herrscher des Hauses“, wie das Namenslexikon verrät?

Sein Bühnenbild zu Marx in London, der Oper, die im Dezember 2018 hier in Bonn ihre Welturaufführung feierte, überzeugte das Publikum auf der ganzen Linie. Oder sagen wir, in allen Waggons. Hank Irwin Kittel arbeitete sehr eng mit dem Regisseur Jürgen R. Weber zusammen, als sie die Szenerie für so ein ganz neues Stück entwarfen. Wie geht er dabei vor?  Zunächst einmal zwei, drei Bücher über Marx lesen, dann machte er sich intensiv mit der Zeitgeschichte, also der historischen Einbettung vertraut.

Und dabei fielen ihm Karikaturen der Zeitschrift Puck in die Hände, dem ersten US-amerikanischen Satiremagazin, das zwischen 1871 und 1918 politische und zeitkritische Karikaturen veröffentlichte. Er entdeckte eine Zeichnung, auf der die Bonzen mit berstenden dollargefüllten Wänsten im Smoking auf einem Floss saßen und ihren Müßiggang genossen. Das Wassergefährt glitt aber nicht durch einen Fluss, sondern lastete auf den Schultern ausgemergelter Arbeiter. „Ich glaube, das ist, was du suchst.“ – mit diesem Text schickte er das Bild an den Regisseur. Daraus entwickelten sie dann die Idee der Waggons, des Oben und Unten, der wohlfeilen Diskurse auf dem Rücken der Ausgebeuteten. 

Im besten Falle also inspirieren sich Regisseur und Bühnenbildner gegenseitig, allerdings sind die Aufgaben eindeutig zugeordnet. Der Regisseur versteht sich immer eher als Künstler und Marketingexperte seiner Ideen – muss er doch sowohl im eigenen Haus als auch bei Gastproduktionen seine Ideen dem Dirigenten und dem Ausstattungsleiter oder technischen Direktor „verkaufen“. Auf der anderen Seite versteht der Bühnenbildner sich eher als derjenige, der das Gewerk erstellt. Da schwingt durchaus Handwerkliches mit; die ersten Ideen setzt der Bühnenbildner in Skizzen, maßstäblichen Modellen oder kleinen Plastiken um. Aus Holz, verschiedenen Pappen und Leisten sowie aus formbaren Stoffen entstehen Miniaturen, die Kittel dann abfotografiert und dem Regisseur zuschickt. Hank misst die Größe solcher Modelle so in 80 x 80 cm auf dem Tisch vor uns ab – Bühnenbilder en miniature also.

Dabei laufen viele Arbeitsgänge sowohl chronologisch als auch parallel ab. Dirigent und Regisseur konferieren über Striche, Tempo und musikalische Ansprüche. Regisseur, Bühnenbildner und Kostümbildnerin poolen dann ihre Ideen. Das reicht von der Farbkomposition für das Bühnenbild bis hin zu Details wie Rüschen, Spitze oder Knöpfe an einem Kostüm. Hank Irwin Kittel hebt besonders die Arbeit der Kostümbildnerin hervor – in der Regel Frauen, deren Aufgabe angesichts der aufwändigen Arbeit und der großen Verantwortung auf jeden Fall finanziell nicht hinreichend gewürdigt wird. Und das, obwohl sie stets nach der Musik, der Regie und der Bühne an vierter Stelle im Programm aufgeführt wird. 

Wie gelangt überhaupt eine Produktion in die Hände dieser vier Menschen? In der Regel fragt das Theater einen Regisseur an, der wiederum meistens einen Bühnenbildner seines Vertrauens mitbringt. Nun steht ja für die Oper Bonn die neue Inszenierung von Cavalleria Rusticana und Pagliacci an, die Guy Montavon, Generalintendant des Theaters Erfurt, übernommen hat. „Manchmal läuft die Kommunikation zwischen Guy und mir wie die eines alten Ehepaares, das gut aufeinander eingespielt ist. Wir verstehen oft blind, ohne viele Worte, in welche Richtung der andere gerade denkt. Dabei ist Guy sehr offen für Vorschläge und arbeitet sie gern in sein künstlerisches Konzept ein.“ 

Vom Handwerken, Bauen und Basteln, vom Zeichnen und Malen war bereits die Rede. In aller Kürze: Für den Beruf des Bühnenbildners sind eine pragmatische Hand und ein kreativer Kopf nötig. Hat er also Theaterwissenschaften studiert und viele Praktika an verschiedenen Häusern sowie beim Schreiner, beim Maler und Tapezierer absolviert?

Hank Irwin Kittel wählte einen eher unorthodoxen Weg, was vielleicht doch symptomatisch für so viele Berufe am Theater ist. Nach dem Abitur studierte er an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe Malerei und Grafik. Er legte einen Meisterschülerabschluss hin, errang sogar einen Preis. Aber nach drei Jahren als freier Maler war ihm klar, dass er beruflich in eine Sackgasse geraten war. Zum Broterwerb heuerte er beim Messebau an, wo er sich genau die handwerklichen Fähigkeiten aneignete, die ihm heute noch zugutekommen. Dann zog es ihn – genau im Wendejahr – nach Berlin. Er quartierte sich im fünften Stock eines Altbaus im Prenzlauer Berg ein, damals selbstverständlich unrenoviert, mit kaputten Fensterscheiben und zwei riesigen Bolleröfen auf 60 Quadratmeter. Ein Atelier für die brotlose Kunst. La Bohème lässt grüßen! 

Von dort vermittelte ihm ein Freund einen Job im geschichtsträchtigen thüringischen Rudolstadt, an das städtische Theater mit langer Tradition. Erste Arbeiten zeitigten erste Erfolge, aber die Kleinstadt war nicht sein Traumziel. Folie4Nächste Stationen waren Nürnberg, Dortmund, Giessen und seit 2002 Erfurt, wo er seither mit dem Generalintendanten Guy Montavon eng zusammenarbeitet. Er stattete Bühnen aus für modernes Tanztheater und Choreografien, Schauspiel und Oper. Wobei die Oper seine jüngste Liebe ist. „Aus meinem Elternhaus bringe ich keine nennenswerte musikalische Bildung mit. Ich kann drei Akkorde auf der Gitarre spielen und ein bisschen singen. Auf dem Gymnasium habe ich Noten lesen gelernt und im Chor gesungen. Aber darüber hinaus? Stuttgart mit dem Staatstheater und der Oper waren fast 80 km entfernt und überhaupt für eine kinderreiche Familie viel zu teuer …“

Heute stattet er im Wesentlichen Opernbühnen aus, Tanztheater nur noch im Jahresturnus und nur noch sehr selten ein Schauspiel. Warum? Das hat sich einfach so ergeben. Und die bunte Welt der Oper facht natürlich seine visuelle Vorstellungskraft an; in seinem Kopf entstehen Bilder zu Zeit, Geschichte und Handlung, wenn er anfängt, sich auf eine neue Produktion und vor allem auf ein neues Stück vorzubereiten. „Zuerst mal schlage ich – wie vermutlich die meisten Leute – bei Wikipedia nach“, erzählt er lachend. „Da weiß ich schon mal das Wichtigste zu Handlung und Rezeption. Dann ziehe ich mich für zwei Wochen in Klausur zurück und lese viel, zum Beispiel über den Verismo. Was war politisch los in der Entstehungszeit? Wie waren die gesellschaftlichen Verhältnisse? Wo und wie positioniert der Komponist die Hauptfiguren? Wo steht das Werk in der Operngeschichte?“ 

Die Cavalleria Rusticana gestaltet er jetzt zum zweiten Mal, Pagliacci zum dritten Mal. Folie3Eine echte Herausforderung, da in Sachen Vorerfahrungen tabula rasa zu machen und einen ganz neuen Aufschlag hinzukriegen. Die zündende Idee kam von Regisseur Guy Montavon, der eine Verbindung zwischen den beiden Stücken herstellen wollte, anstatt sie wie gewohnt unverbunden nebeneinander zu stellen. Traditionell werden die beiden Opern zusammen aufgeführt, weil sie je 1 1/4 Stunden dauern und aus derselben Zeit stammen. Sonst verbindet sie prima vista nichts. 

Nun erscheinen beide Komponisten – Pietro Mascagni und Ruggero Leoncavallo – in ihren Totenmasken und disputieren qua Oper über die Philosophie des Verismo. Die Totenmasken finden sich in keinem Museum, sondern sind gestalterisch realen Fotografien nachempfunden. Kittel hat sie als meterhohe Skulpturen angelegt. Die kippen dann nach hinten weg und dienen als „metaphysische, begehbare Landschaften“ für beide Opern. „Und was sollen die Leute da spielen? Wie stellst du dir das vor?“, fragte Kittel den Regisseur. Das werden wir am 9. November 2019 bei der Premiere sehen (und hören!). 

Zurück zum Beruf des Bühnenbildners. Insgesamt für ungefähr drei Monate im Jahr übernimmt Kittel Gastaufträge an anderen Häusern. Die übrige Zeit arbeitet er an seinem Mutterhaus, dem Theater Erfurt, wo er einen festen Arbeitsvertrag hat. Dort zeichnet er für die Bühne von drei Produktionen jährlich verantwortlich, wobei ihm „zu Hause“ eine Kostümbildnerin als Assistentin und ein Praktikant zur Seite stehen.

Darüber hinaus nimmt er die Aufgabe des Ausstattungsleiters wahr, wenn Gastregisseure am Theater Erfurt inszenieren. „Da kommen ja doch hin und wieder Leute mit einem einigermaßen aufgeblasenen Ego, denen auch ein entsprechender Ruf vorauseilt.“ Solche Kollegen haben dann außergewöhnliche Ideen für den Bühnenaufbau, dem natürliche Grenzen durch Höhe, Breite und Tiefen gesetzt sind. Oder aber sie planen Podienfahrten, die die Bühnenmaschinerie so nicht erlaubt. Dann fungiert Kittel als Mediator, der die Wünsche des Gastes und die Gegebenheiten des Theaters unter einen Hut bringt. Er kocht die mitunter maßlosen Wünsche in besänftigenden Gesprächen so runter, dass alles vom Haus bereitgestellt wird, was zu einer erfolgreichen Produktion führt. 

Während wir so angeregt die verschiedenen Aspekte des Lebens und Arbeitens hinter der Bühne diskutieren, schaut Ansgar Baradoy, Ausstattungsassistent und Bühnenbildner am Theater Bonn, an unserem Tisch vorbei. Ein Leuchten geht über Kittels Gesicht. „Ansgar ist für meine Arbeit ein echtes Geschenk. Wenn ich für ein paar Tage nicht vor Ort sein kann, führt er die Bühnenausstattung genau in meinem Sinne fort.“ Hank Irwin Kittel sitzt am nächsten Tag schon um kurz nach sieben im ICE. Vier Tage lang kehrt er Bonn den Rücken. Sollte in der Zwischenzeit jemand auf die Idee kommen, in eine Wand ein Loch zu bohren oder eine andere Farbe aufzutragen, würde Ansgar sofort reingrätschen und Kittel kontaktieren. Nur mit seinem Placet dürfen die Handwerker Veränderungen am Plan vornehmen. 

Mein Kaleidoskop an Theaterberufen und Theatermenschen mit den unterschiedlichsten Herkünften, Ausbildungen und Studiengängen, mit brüchigen Berufsbiografien und berufstypischen Skills hat sich um eine faszinierende Facette erweitert. Hank Irwin Kittel spricht immer noch im Unterton und der Satzmelodie sein Herkunfts-Heilbronnerisch, erzählt so lebendig wie liebenswürdig von Sachen und Skurrilitäten im Theaterbetrieb und lässt unsere Mittagsstunde wie im Flug vergehen. 

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